8 | RECHTSSTAAT & GRUNDRECHTE «Was jetzt geschieht, ist für die Demokratie gefährlich» Das Zertifikat vermittle eine falsche Sicherheit, sagt der Philosoph Michael Esfeld. Durch die bevormundende Politik des Bundesrats würden die Bürgerinnen und Bürger entmündigt. Wenn man die Menschen nicht mehr als freie und eigenverantwortliche Wesen akzeptiere, zerstöre man die Wissenschaft und die Demokratie. Eine Wohnung im Grünen, hell, voller Bücher und eindeutig bewohnt von einer Familie mit Kindern – dort empfängt uns Michael Esfeld freundlich, umkompliziert, sehr herzlich. Wir sind sofort im Gespräch: Herr Esfeld, wir haben am 28. November eine sehr wichtige Abstimmung. Es geht um 4 Er- weiterungen zum sogenannten Covid-19-Ge- setz. Ich möchte auf eine Ergänzung genauer eingehen, und zwar auf das «Zertifikat». Das ist wie eine Eintrittskarte ins öffentliche Le- ben. Man bekommt sie nur, wenn man dop- pelt geimpft oder genesen ist oder wenn man sich alle 2 Tage testen lässt. Wir haben hier einen Spagat zwischen Sicherheit, die der Staat uns geben will, und der Forderung nach Freiheit. Unsere Grundrechte werden mas- siv beschnitten. Was sagen Sie aus wissen- schaftsphilosophischer Sicht zum Zertifikat? Da Sie das Spannungsverhältnis angesprochen haben, kann man philosophisch ein bisschen ausholen. Ich spreche hier als Philosoph, Wissenschaftler und als Bürger unseres Lan- des, aber nicht für irgendeine Institution oder Partei. Der Staat ist dazu da, Sie zu schützen. Zum Beispiel davor, dass jemand Gewalt ge- gen Sie anwendet. Wie kann er das tun? Damit niemand Sie auf der Strasse bedrohen kann, müsste der Staat ja immer wissen, wo sich alle Menschen aufhalten, um herausfinden zu können, wer bedrohlich ist. Wenn man den Si- cherheitsanspruch so weit ausdehnen würde, dann wäre von der Freiheit nichts mehr übrig. Das ist ein altes Dilemma. Genau das sehen wir jetzt auch: Man stellt alle Menschen unter Generalverdacht, Virenschleudern zu sein und andere Menschen in ihrem alltäglichen Leben zu bedrohen. Zum Beispiel wenn Sie ins Res- taurant, ins Fitnesscenter oder an die Univer- sität gehen. Jetzt sollen Sie sich durch dieses Zertifikat von dem Generalverdacht reinwa- schen. Aus wissenschaftlicher Sicht haben wir keine Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die keine Symptome haben, in irgendeiner signifikanten Weise gefährliche Krankheiten verbreiten. Wir haben, was die Impfungen betrifft, viel zu wenig Wissen darüber, inwie- fern und wie lange sie Schutz gewähren und ob geimpfte Personen wirklich die Viren nicht weiterverbreiten können; zu möglichen lang- fristigen Schäden durch die Impfung können wir noch gar nichts sagen. Auch die Tests sind nicht sicher. Das Zertifikat suggeriert daher eine falsche Sicherheit. Die Idee, dass der Staat oder irgendwelche Wissenschaftler ein Wissen hätten, welches das Risiko, sich mit einem Virus zu infizieren, quasi auf null redu- ziert und die Menschen reinwäscht, und zwar auch reinwäscht von der Eigenverantwortung, sich in jeder Situation umsichtig zu verhalten – «wir haben jetzt ein Zertifikat und damit kann nichts mehr passieren» – ist falsch. Michael Esfeld ist Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universi tät Lausanne und Mitglied der Leopoldi- na, der Deutschen Akademie der Wissenschaften. In der Corona-Diskussion fällt er durch seine klaren Positionen zur Verteidigung der Freiheits- und Grundrechte auf. «Man hat Modellrechnungen gemacht und gesagt, einge- schränkte soziale Kontakte würden die Ausbreitung des Virus verhindern. Wir wissen aber inzwischen, dass das empirisch falsch ist.» Finden Sie es denn nicht sinnvoll, dass der Staat sich um die Gesundheit kümmert? Wir haben da ja tatsächlich einen Paradigmenwechsel. Früher waren die Mediziner dafür zuständig. Heute tritt der Staat in Aktion. Sie haben den Strategiewechsel angesprochen, statt medizinisch bekämpft man das Virus jetzt politisch, beispielsweise hat man Lockdowns ver- hängt. Da hat man Modellrechnungen gemacht und gesagt, wenn man die sozialen Kontakte der Menschen einschränkt, dann breitet sich das Virus weniger aus. Wir wissen aber inzwischen, dass das empirisch falsch ist. Wenn wir die Länder betrachten, die keine Lock- downs vorgenommen haben, sehen wir, dass dort die Pandemie auch nicht schlimmer verlaufen ist. Politische Massnahmen wie Lockdowns haben zu keinem nachweislichen Gesundheitsschutz, wohl aber zu gewaltigen Schäden geführt. Wenn Sie die Bewegung einschränken, schränken Sie die sozia- len Kontakte der Menschen ein. Für viele und ge- rade für ältere Menschen sind die sozialen Kon- takte Kraft- und Gesundheitsquellen. Wenn Sie die Statistiken aufschlüsseln, sehen Sie, dass die Einschränkung der sozialen Kontakte zu Todes- fällen geführt hat. Es gibt Leute, die nicht am Co- rona-Virus, sondern an den politischen Massnah- men gestorben sind. Man sieht: Gesundheit soll man schützen; daraus folgt aber nicht, dass man bestimmte Massnahmen für alle ergreifen, also alle über einen Kamm scheren kann. Niemand gefährdet absichtlich oder aus grober Fahrlässig- keit andere. Wenn ich weiss, dass bestimmte Per- sonengruppen, ältere Menschen, durch ein Virus gefährdet sind, passe ich mein Verhalten ihnen gegenüber an, weil ich eigenverantwortlich und mit Augenmass handle. Was jetzt geschieht, ist für die Demokratie gefährlich, weil der Bundesrat die Menschen entmündigt. Wenn Sie auf die Strasse gehen, sehen Sie überall Plakate, auf denen steht: Hände waschen, Abstand halten, Masken tragen! Man kommt sich vor wie im Kindergarten. Wenn man abstimmen darf, wenn man partizipiert an den politischen Entscheidungen, dann muss ei- nem ja zugetraut werden, dass man mündig und in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen. Sonst muss man auch gleich sagen: «Es ist wissen- schaftlich oder politisch vorgegeben, dies oder das zu wählen» oder sogar: «Also, ihr könnt auch nicht wählen. Wenn wir euch nicht zutrauen, ei- genverantwortlich zu handeln, können wir euch auch nicht mehr zutrauen zu wählen.» Und dann ist klar, dass die Demokratie am Ende ist. Der Staat versucht sein Handeln wissenschaft- lich zu legitimieren. Er sagt, wir entnehmen un- sere Handlungsanweisungen immer den Emp- fehlungen der Task Force. Die Wissenschaft tritt wie ein monolithischer Block auf. Spricht da die Wissenschaft? Nein. Die Task Force ist einseitig zusammen- gesetzt. Das widerspricht den Prinzipien der Schweiz. Wenn man sich wissenschaftlichen Rat holen will, sollte man alle Wissenschaftler, die